Herr Bolzman, Sie präsidieren seit Anfang 2022 das Nationale Forum Alter und Migration. Was motiviert Sie zu diesem Engagement?
Das Nationale Forum Alter und Migration ist eine Dachorganisation, die mit ihren Leitlinien und Aktivitäten versucht, die Situation von älteren Migrantinnen und Migranten in der Schweiz zu verbessern. Es ist ein Gremium, das in diesem Bereich bedeutende Impulse zu geben vermag, weil es die wichtigsten Organisationen vereint, die ältere Menschen in der Schweiz unterstützen, sowie verschiedene Organisationen, die direkt mit Migrantinnen und Migranten arbeiten. Zudem ist es Partner der Bundesämter, die von der Problematik betroffen sind. Das Forum kann somit die direkt in diesem Bereich involvierten Akteure für die Notwendigkeit sensibilisieren, die Lebensbedingungen dieser älteren Bevölkerungsgruppen zu verbessern. Da ich durch meine Forschungen mit diesen Fragen gut vertraut bin, vor Kurzem selbst in gewisser Weise zu einem «älteren Migranten» geworden bin und die Arbeit des Forums seit den ersten Jahren seines Bestehens kenne und schätze, war es für mich selbstverständlich, das mir angebotene Präsidium des Forums zu übernehmen. Es ist eine Verantwortung, die mich ehrt. Ich hoffe, dass ich zur wichtigen Arbeit, die das Forum bis heute geleistet hat, weiter beitragen kann und dass wir gemeinsam geeignete Massnahmen ergreifen, um eine gute Lebensqualität für die ältere Migrationsbevölkerung in der Schweiz zu fördern.
Sie sind Professor für Soziologie in Genf und forschen als Pionier auf diesem Gebiet seit den 1990er-Jahren auch regelmässig über die Situation der älteren Migrationsbevölkerung in der Schweiz. Was sind für Sie – kurz zusammengefasst – die wichtigsten Erkenntnisse aus Ihrer Arbeit?
Die erste Lehre ist, dass man von älteren Migrantinnen und Migranten viel lernen kann. Sie zu befragen bedeutet, einen eher unbekannten Teil der jüngeren Geschichte der Schweiz zu entdecken. Seit den 1950er- und 1960er-Jahren hat ihre Ankunft in der Schweiz zur Transformation dieses Landes beigetragen und ihre Erfahrungen ermöglichen es uns, eine andere Realität dieser Gesellschaft mit ihren Licht- und Schattenseiten zu erforschen. Erlauben Sie mir eine kleine Anekdote: Ein Verein, der sich um die Freizeitgestaltung älterer Migrantinnen und Migranten kümmert, beschloss, einen Nachmittagsbesuch in einem Kunstmuseum in einer unserer grösseren Städte zu organisieren. Bei der Ankunft im Museum beobachtete die Betreuerin, dass die älteren Männer, die die Mehrheit der Gruppe bildeten, sehr lebhaft miteinander diskutierten. Sie war neugierig, worüber sie sprachen und ob es die Malerei war, die sie besonders interessierte. Als sie ihnen diese Frage stellte, antworteten die Männer, dass mehrere von ihnen am Bau des Museums beteiligt gewesen waren und dass sie sich an verschiedene Herausforderungen erinnerten, denen sie sich stellen mussten, an Probleme, die sie zu der Zeit, als sie an dem Projekt beteiligt waren, lösen mussten. Diese Menschen sind Träger einer Erinnerung an unsere gemeinsame Geschichte, die es verdient, stärker bekannt gemacht zu werden, bevor es zu spät ist. Das folgende Sprichwort ist immer noch aktuell: «Wenn ein älterer Mensch geht, verschwindet eine ganze Bibliothek.»
Eine zweite Erkenntnis ist die grosse Vielfalt an Laufbahnen und Situationen der Menschen, die die von uns als «ältere Migrantinnen und Migranten» bezeichnete Bevölkerungsgruppe bilden. Sie unterscheiden sich in der Tat durch ihre unterschiedliche nationale Herkunft, den Zeitpunkt ihrer Ankunft in der Schweiz, ihr Alter bei ihrer Ankunft, ihre Berufe, ihr soziales Umfeld, ihre Lebensorte in der Schweiz usw. Die meisten dieser Menschen haben jedoch eines gemeinsam: Sie haben sich in der Schweiz niedergelassen, wo ihre Kinder und Enkelkinder aufgewachsen sind. Auch wenn die Tendenz besteht, sie manchmal zu vergessen, sind sie nun Teil unserer Gesellschaft. Die Art und Weise, wie wir sie betrachten, wird sich zwangsläufig auf ihre Kinder und Enkelkinder auswirken.
Die Situation älterer Migrantinnen und Migranten in der Schweiz ist kein politisches Thema und steht auch nicht auf der Tagesordnung von Wissenschaft und Praxis. Wie würden Sie die aktuelle Situation der älteren Migrantenbevölkerung in der Schweiz beschreiben und wo sehen Sie Handlungsbedarf?
Der Übergang in den Ruhestand und das Altern älterer Migrantinnen und Migranten werden von früheren Phasen ihres Lebens beeinflusst, insbesondere von ihren Lebensbedingungen im Erwachsenenalter. Auch wenn die ältere Migrationsbevölkerung, wie ich gerade erwähnt habe, vielfältig ist, wissen wir, dass ein grosser Teil manuelle Berufe mit hoher körperlicher Belastung und bescheidenen Löhnen ausgeübt hat. Sie leiden daher häufig unter einer vorzeitigen körperlichen Abnutzung und erleben oft auch materielle Unsicherheit beim Übergang in den Ruhestand, insbesondere, wenn es sich um verwitwete oder geschiedene Frauen handelt.
Eine aktuelle, auf Daten des Bundesamts für Statistik (BFS) basierende Studie zeigt, dass im Jahr 2020 deutlich mehr Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit als Menschen mit Schweizer Pass am Coronavirus gestorben sind. Der Anstieg im Vergleich zu 2019 ist in der Altersgruppe der 65- bis 74-Jährigen besonders hoch: 20,9 % bei Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit gegenüber 2,2 % bei Personen mit Schweizer Staatsangehörigkeit. Die Faktoren, die zu diesem enormen Sterblichkeitsgefälle führen, müssen noch ermittelt werden. Am Wahrscheinlichsten ist es jedoch, dass sozioökonomische Prekarität und schlechte Gesundheit die entscheidenden Faktoren sind. Prof. Mathias Egger, ehemaliger Leiter der Taskforce und Präsident des Nationalen Forschungsrats des Schweizerischen Nationalfonds (SNF), hat den Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Status und dem Risiko einer Covid-19-Erkrankung untersucht. Er stellt fest, dass es sich um «ein Klassenvirus» handelt, da arme Menschen viel stärker gefährdet sind. So mussten unter den ärmsten 10 %, die in der Schweiz leben, doppelt so viele Infizierte wie unter den reichsten 10 % auf der Intensivstation behandelt werden. Und es ist bekannt, dass ältere Migrantinnen und Migranten unter den armen Bevölkerungsgruppen überrepräsentiert sind.
Dieses Beispiel zeigt, dass trotz der in Wissenschaft und Praxis herrschenden Tendenz, die ältere Migrationsbevölkerung zu vergessen, die Realität uns an ihre Existenz und die Notwendigkeit erinnert, ihnen unsere verdiente Aufmerksamkeit zu widmen. Im Fall von übertragbaren Krankheiten müssen wir präventiv handeln und diese Bevölkerungsgruppe besser mit Informationen und Unterstützung erreichen. Es ist wichtig, auf die Orte zuzugehen, an denen sich ältere Migrantinnen und Migranten aufhalten, auf die Orte, an denen sie sich gewöhnlich treffen, anstatt darauf zu warten, dass sie sich selber an die Institutionen wenden. Es ist für sie nicht einfach, den ersten Schritt zu machen.
Wo möchten Sie als neuer Präsident des Nationalen Forums Alter und Migration mit seinen Mitgliedern in Zukunft Schwerpunkte setzen? Welche Ziele haben Sie sich für die nächsten Jahre gesetzt?
Das Nationale Forum Alter und Migration verfügt bereits über einen reichen Erfahrungsschatz in der Unterstützung älterer Migrantinnen und Migranten, der Förderung ihrer Rechte sowie der Information der Öffentlichkeit. Es arbeitet seit mehreren Jahren von klaren Zielen ausgehend, um die Situation dieser Menschen zu verbessern. Ich habe daher vor allem vor, mich auf das grosse Fachwissen der Mitglieder des Forums zu stützen, um gemeinsam mit ihnen die Prioritäten für die nächsten Jahre festzulegen. Gerade wurde die Bedeutung geeigneter Informationen angesprochen, um diese älteren Menschen breiter zu erreichen. Nun hat das Forum bereits in diesem Bereich gearbeitet und ist an der Ausarbeitung eines Kommunikationskonzepts interessiert, um ältere Migrantinnen und Migranten besser über die Altersvorsorge zu informieren, die in der Schweiz besonders komplex ist. Wenn das Forum dieses Ziel beschliesst, werde ich seine Umsetzung vorbehaltlos unterstützen.
Da die Schweiz ein föderaler Staat ist, besteht eine weitere grosse Herausforderung darin, die positiven Erfahrungen aus diesem oder jenem Kanton den Stellen, die in anderen Kantonen und Sprachregionen arbeiten, besser bekannt zu machen. Wir können viel voneinander lernen, wenn wir die richtigen Mechanismen finden, um besser miteinander zu kommunizieren.
O-Ton aus Presse
Spectra online (BAG 2022)
Das Nationale Forum Alter und Migration vernetzt wichtige Akteure aus den Bereichen Gesundheit, Alter, Integration und Migration. Mit Claudio Bolzman von der Hochschule für Soziale Arbeit Genf hat die Plattform fortan einen neuen Präsidenten mit langjähriger Forschungserfahrung und persönlichem Bezug zum Thema.
REISO (Revue d’Information Sociale 2022)
Claudio Bolzman, professeur honoraire de la HETS Genève, vient d’être nommé président du Forum national âge et migration. Il explique les problèmes auxquels sont confrontés ce groupe particulier de seniors.