Gedächtnis und Erinnerungen im Migrationskontext

19. September 2024

Bern, Hotel Kreuz,
Zeughausgasse 41

Simultanübersetzung:
deutsch - französisch

Von 13.30 bis 17 Uhr,
mit anschliessendem Apéro

Eintritt frei

Mit zunehmendem Alter verblassen manche Erinnerungen und es fällt uns schwerer, Informationen zu behalten, die für unseren Alltag nützlich sind. Andere Erinnerungen hingegen, die scheinbar vergessen waren, kehren plötzlich zurück. Einige sind angenehm und schön, andere beängstigend.

Die Erinnerung führt uns zu unseren Ursprüngen zurück, zu den Orten, wo wir geboren, wo wir geformt wurden und wo wir uns als Individuen entwickelt haben. Das autobiografische Gedächtnis ist daher ein wichtiger Schlüssel zu unserer Identität. 

Aber wie funktioniert das Gedächtnis bei einer Person, die gezwungen wurde, ihr Land zu verlassen? Welche Erinnerungen werden bewahrt und weitergegeben? Und wenn die Erinnerungen zu schmerzhaft sind, wie drücken sie sich im Migrationskontext aus? Kann man hin- und hergerissen sein zwischen der Notwendigkeit, sich zu erinnern, und dem Bedürfnis, eine zu schmerzhafte Vergangenheit zu vergessen? 

Welche Spuren hinterlässt die Erinnerung, die sich nicht ausdrücken konnte? Welche Räume, welche Projekte können wir gestalten, um Prozesse des Erzählens und Bezeugens zu fördern und zu unterstützen?

Wir freuen uns darauf, einige dieser Fragen am 19. September mit Ihnen zu diskutieren.

«Bleiben Sie bei mir, Fosca, sehen Sie mich an, und vergessen Sie nichts.»
Er lächelte. «Das ist leicht», sagte er, «ich habe ein gutes Gedächtnis.»
Seine Miene wurde finster: «Ein zu gutes sogar.»

– Simone de Beauvoir,
Alle Menschen sind sterblich

Zunächst hören wir zwei Beiträge, die uns zu wichtigen Ereignissen in der Geschichte zurückführen: zum Staatsstreich in Chile 1973, verübt von Augusto Pinochet und gefolgt von 16 Jahren Diktatur, und zum Krieg in Bosnien und Herzegowina (1992-1995). Wie sind die Erinnerungen von Emigrierten abgebildet, wie kann das Gedächtnis im Dienst einer solidarischeren und gerechteren Gesellschaft arbeiten? 

Anschliessend lernen wir ein Beispiel für einen Erzählraum kennen, die Erzählcafés. Erzählcafés sind biografische Gruppendiskussionen, die zu einem vorgegebenen Thema moderiert werden. Es handelt sich um eine partizipative und interaktive Methode, die im Kontext der Sozialarbeit und der „Oral History“ entwickelt wurde. Ihr Ziel ist es, den Respekt für Vielfalt und den sozialen Zusammenhalt zu fördern.

Das abschliessende Panel bietet schliesslich eine multidisziplinäre Reflexion mit Bezug zu Kunst, Geschichte und Psychotherapie/Psychiatrie über die Dialektik zwischen Erinnern und Vergessen. Während ein gutes Gedächtnis gesund ist, wenn ein Gleichgewicht zwischen Vergessen und Erinnern besteht, ist Vergessen als Amnesie gefährlich, da es das Streben nach Gerechtigkeit und Wahrheit behindern kann. Welche Erinnerungsarbeit auf individueller und kollektiver Ebene ist notwendig und möglich? Wie kann man von schwierigen Erfahrungen erzählen und Zeugnis ablegen, um mit der Vergangenheit abzuschliessen und sich mit ihr zu versöhnen? 

Wir freuen uns darauf, Sie am 19. September begrüssen zu dürfen!

Programm

Begrüssung und Einführung
Gisella Dufey Hinch und Andrea Greber, Nationales Forum Alter und Migration und Schweizerisches Rotes Kreuz

13:30 Uhr

13:40 Uhr

Exil, Erinnerungen, Übertragungen. Das Beispiel Chile
Claudio Bolzman, Soziologe und Honorarprofessor an der Fachhochschule Westschweiz (Genf) und Präsident des Nationalen Forums Alter und Migration

Dreissig Jahre nach Kriegsende in Bosnien und Herzegowina: Wege für eine solidarische Erinnerungskultur
Elma Hadžikadunić, Programmverantwortliche Alter und Migration für die Westschweiz und Co-Vizepräsidentin des Nationalen Forums Alter und Migration
Aida Kalamujic, Juristin und ehemalige Leiterin des Programms "AltuM" (Alter und Migration) der HEKS-Regionalstelle Zürich und Schaffhausen

14:10 Uhr

14:40 Uhr

Austausch mit dem Publikum

14:55 Uhr

Pause

15:15 Uhr

The dignity of difference. Erzählcafés als Orte des Erzählens und Zuhörens, des Respekts und der Zugehörigkeit
Johanna Kohn, Professorin an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) 

15:45 Uhr

Austausch mit dem Publikum

15:55 Uhr

Kurze Pause

16:00 Uhr

Zwischen dem Bedürfnis zu vergessen und der Notwendigkeit, sich zu erinnern: Perspektiven der Psychiatrie, der Geschichte und der Kunst

Panel mit
Francesca Falk, Dozentin für Migrationsgeschichte, Universität Bern
Michel Abou Khalil, Schweizerisch-libanesischer Schauspieler und Forscher, Geschäftsleiter des Vereins Swiss Made Culture
Jean-Claude Métraux, Psychiater und Psychotherapeut

 Moderation: Gisella Dufey Hinch, Co-Vizepräsidentin Nationales Forum Alter und Migration und Fachexpertin Grundlagen und Entwicklung SRK

16:45 Uhr

Austausch mit dem Publikum

17:00 Uhr

Kurzer Abschluss und Aperitif

Referentinnen und Referenten

  • Soziologe und Honorarprofessor an der Fachhochschule Westschweiz (Genf) und Präsident des Nationalen Forums Alter und Migration

    Claudio Bolzman beschäftigt sich seit über 30 Jahren mit Fragen zu Alter und Migration. In diesem Rahmen interessiert er sich auch für die Problematik des Exils und der Erinnerung. Als Schweizer und Chilene betrifft ihn die Frage der Erinnerung und ihrer Weitergabe bei chilenischen Emigrierten ganz besonders. Zu den Veröffentlichungen im Zusammenhang mit seinem Beitrag gehören unter anderem: Sociologie de l'exil: une approche dynamique. L’exemple des réfugiés chiliens en Suisse, Zürich: Seismo. 1996;  "De l’exil à la diaspora. L’exemple de la migration chilienne". Autrepart, Revue de l'Institut de recherche pour le développement, 2002;  "Violence politique, traumatismes, exil et formes de résilience. Une regard rétrospectif cinquante ans après le coup d’Etat militaire du Chili". In Moussa-Babaci, F., Costa-Fernandez, E., Gahar, S. (Hrsg.) Education et psychologie en temps de crises. Paris: L'Harmattan, 2022.

  • Dozentin für Migrationsgeschichte an der Universität Bern

    Francesca Falk ist Dozentin für Migrationsgeschichte an der Universität Bern. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, Migration, Machtverhältnisse, Geschlechtergeschichte, Protest, Kolonialismus und seine Nachwirkungen, Geschichte als transformative Wissenschaft sowie Public, Visual und Oral History.

    Zusammen mit Katrin Karl, Maria Chevrekouko und Aldona Rzitki leitet sie das Seminar "UnVergessen: Migration, Mehrsprachigkeit und Geschichte im Pflegeheim".

  • Leiterin des Programms Alter und Migration bei HEKS und Co-Vizepräsidentin des Nationalen Forums Alter und Migration

    Nach einer Erstausbildung im künstlerischen Bereich studierte Elma Hadžikadunić Politikwissenschaft und Geschichte an der Universität Lausanne. Sie hat einen Masterabschluss und ergänzte ihre Ausbildung mit einem CAS in Konfliktmediation. Sie befasst sich insbesondere mit Migrationsfragen und deren Stellenwert in der öffentlichen Politik der Schweiz. Ihr grosses Interesse an diesem Thema hängt mit ihrem persönlichen Migrationshintergrund zusammen. Ihr Wissen stützt sich zudem auf verschiedene Berufserfahrungen im In- und Ausland. Sie ist Leiterin des HEKS-Programms Alter und Migration für die Westschweiz.

  • Juristin und ehemalige Leiterin des Programms "AltuM" (Alter und Migration) der HEKS-Regionalstelle Zürich und Schaffhausen

    Aida Kalamujic ist Juristin und lebt seit 1993 in der Schweiz. Nachdem sie aus ihrer belagerten Heimatstadt Sarajevo geflohen war, engagierte sie sich von Anfang an als Freiwillige für andere Geflüchtete bei der Asylorganisation Zürich. Im Jahr 2003 lancierte sie dann auf privater Basis ein Integrationsprojekt für ältere Bosnierinnen und Bosnier, die aus ihrem Land geflohen waren. Drei Jahre später entwickelte und leitete sie es für HEKS unter dem Namen "AltuM", ein Integrationsprogramm für ältere Migrantinnen und Migranten. Heute wird es auf nationaler Ebene betrieben, ist sehr erfolgreich und wurde mehrfach als Pionierarbeit ausgezeichnet.

    Aida Kalamujic ist seit kurzem pensioniert, engagiert sich aber weiterhin als Koordinatorin des "AltuM-Tandems" von HEKS, einem neuen Angebot, das ältere Geflüchtete und freiwillige Begleitpersonen partnerschaftlich zusammenbringt.

  • Schweizerisch-libanesischer Schauspieler und Forscher, Geschäftsleiter des Vereins Swiss Made Culture

    Nachdem er an der libanesischen Universität einen Bachelor- und einen Masterabschluss in Schauspielkunst erworben hatte, wurde Michel Abou Khalil in seinem Heimatland Libanon zu einem bekannten Schauspieler. Er promovierte in französischer Literatur an der Arabischen Universität Beirut und arbeitete als Kulturattaché an der Schweizer Botschaft im Libanon. Heute leitet er den Verein SWISS MADE CULTURE im Wallis, der die kulturelle Schweiz im Dialog mit der Welt feiert.

    Michel Abou Khalil ist Autor des Buches "Art et conflit. L’impact du théâtre au Liban". In diesem Essay analysiert er die wichtigsten Etappen der Entwicklung des Theaters im Libanon, beleuchtet seine verschiedenen Funktionen innerhalb der Gesellschaft und erinnert uns an die Bedeutung der Erinnerungsarbeit und die ausserordentliche Macht der Kunst in einem vom Krieg zerrissenen Land.

  • Professorin an der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW und Mitbegründerin des Netzwerks Erzählcafé

    Johanna Kohn wurde in Wien geboren und ist in Deutschland aufgewachsen. Derzeit lebt sie mit ihrer Familie in Basel. Sie ist Professorin am Institut Integration und Partizipation der Hochschule für Soziale Arbeit / Fachhochschule Nordwestschweiz. Zusammen mit dem Migros-Kulturprozent hat sie das Netzwerk Erzählcafé gegründet. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Biografiearbeit (Theorien und Methoden der Biografiearbeit, Erzählcafés, narrative Methoden der Sozialen Arbeit), Kommunikation und Beratung, Alter und Migration, Ethik, Abschied, Tod und Trauer. Darüber hinaus engagiert sie sich auch in der kultur- und religionssensiblen Altersarbeit.

  • Psychiater und Psychotherapeut

    Jean-Claude Métraux ist Psychiater und Kinder- und Jugendpsychotherapeut FMH. Er ist Mitbegründer des Vereins "Appartenances" in Lausanne und Mitglied des Vorstands von MASM (Médecins Action Santé Migrants). Er arbeitet seit vielen Jahren mit Patientinnen und Patienten mit Migrationshintergrund, Familien und Gemeinschaften in prekären Situationen zusammen und arbeitet auch an verschiedenen Projekten im Ausland mit.

    Er ist Autor des Buches "La migration comme métaphore", in dem er eine tiefgründige Reflexion über die Bedeutung des Begriffs "Migration" anstellt. Darin behandelt er die Themen Verlust, Trauer, Exklusion, Inklusion und Zugehörigkeit zu den Welten, die wir durchqueren.